Sie ist an die sechzig, mißtrauisch, launisch, hochfahrend, tablettensüchtig, schlau, kurzsichtig, beißend humorvoll bis zynisch, schlaflos und zäh. Seit Jahren hat sie ihr Bett nicht verlassen. Obwohl sie kaum schlafen kann. Wie ein Vogel sitzt sie da und denkt an Galizien. Damals. Als die Deutschen kamen und sie noch Chawa Fränkel hieß. „Ich habe mich nicht frohlockend wollen vergasen lassen.“ Anders als andere Opfer ist sie nicht stumm geworden, sondern laut.
Die, die sich so nennt, hieß Chawa Fränkel und verheiratet Eva Deutsch, lebt verwitwet in Wien. Über zwei Jahre lang hat sie immer wieder mit der Schriftstellerin Brigitte Schwaiger geredet, hat der aus ihrem Leben erzählt. So entstand einer der ungewöhnlichsten Berichte vom Überleben eines von Hitler für die Gaskammer bestimmten Menschen, der dank einer eigenartigen Mischung von Intelligenz und Naivität, gepaart mit Glück, die schlimme Zeit überstand. Eva Deutsch spricht die Sprache der ewig Unterdrückten, die es gewohnt sind, selbst Grauenvolles nicht ohne jeden Galgenhumor, der auch an Schwejk erinnert, zum besten zu geben. Manchmal schämt sie sich auch für diesen Humor, wie sie sich für ihren unbändigen Lebenswillen schämt und für ihre Geschicklichkeit, am Leben zu bleiben. Sie schämt sich, wenn sie an ihren Vater denkt, der bald nach Kriegsbeginn verhungert ist, an ihre Mutter und die beiden Schwestern, die deportiert wurden, an ihren kleinen Bruder Elieser, den sie selbst noch ein Kind - lange Zeit hatte durchfüttern können, bis der Judenrat ihn als Mann auf die Deportationsliste setzte, an den anderen Bruder Aaron, den sie auf der Flucht bei einer Bahnhofsrazzia verlor. Keiner ihrer neunköpfigen Familie hat überlebt. Nur die Bilder in ihrem Kopf, ihre Erinnerung. Anfang 1990 ist Eva Deutsch in Wien gestorben.